„Muslimische Jungs sind schwierig.“ „Sie sind Machos.“ „Sie lassen sich von einer Frau nichts sagen.“ „Sie verhalten sich respektlos.“ Das höre ich immer wieder. Doch stimmt das?
Vielleicht sind Sie jemand, der oder die gerne hinterfragt und hinter die Kulissen schaut! Dorthin möchte ich Sie gerne mitnehmen. Denn der erste Schritt ist es, zu verstehen, warum sich jemand so verhält, wie er es tut. Dann kann man Lösungen finden, wie man selbst am wirksamsten handelt.
Üblicherweise sagen wir, wenn wir ratlos sind, das Gegenüber sei schwierig
Wenn wir jedoch verstehen, was das Gegenüber bewegt, wie es sich fühlt und wenn wir wirksame Tools beherrschen, verliert die Situation schon viel an Schwierigkeit.
Es gibt ganz allgemeine Hintergründe für das Verhalten wie beispielsweise kulturelle Gegebenheiten aber auch spezielle, wie Erlebtes und die Persönlichkeit eines Menschen. Nicht jedes Verhalten lässt sich auf Kultur oder Religion zurückführen.
Zu den allgemeinen Hintergründen gehört zum Beispiel, dass in vielen muslimischen Kulturen eine sehr steile Hierarchie herrscht. Das bedeutet: Wenn sich zwei Menschen begegnen, stellt sich üblicherweise eine Person über die andere.
Wer darüber und wer darunter steht, hängt zum Beispiel von Alter, der Rolle, der sozialen Schicht, aber vor allem von den Zeichen der Macht ab. Diese können Körpersprache, Kleidung, Statussymbole, usw. sein. Für die körpersprachlichen Zeichen der Macht haben in der muslimischen Welt üblicherweise bereits Kinder sehr feine Antennen.
Wer darüber steht, strahlt häufig mit jeder Faser des Seins Dominanz aus, wer darunter steht, zeigt sich meist unterwürfig. Von einer Person in führender Rolle wie z.B. Lehrenden, Mitarbeitenden bei Behörden, Ärzten wird üblicherweise erwartet, dass sie ihre Rolle auch einnimmt.
Partnerschaftliches Verhalten ist für manche muslimischen Jungs noch ungewohnt
Es kann als Inkompetenz oder Unterwerfungsgeste missverstanden werden.
Darauf reagieren manche mit Dominanzverhalten, da dieses Darüber-darunter-Stehen wie eine Kinderwippe funktioniert. Je tiefer die eine Person sich positioniert, umso höher steht automatisch die andere. Das ist nicht böse gemeint, sondern ein Automatismus.
Üblicherweise sind wir Frauen es hierzulande gewöhnt, sehr subtile Zeichen des Tiefstatus auszusenden. Wie z.B. den Kopf ganz leicht zu einer Seite zu neigen, das Gewicht auf ein Bein zu verlagern, an unseren Haaren oder unserer Kleidung zu zupfen.
Wenn unser Gegenüber feine Antennen für die Zeichen der Macht entwickelt hat, kann das den oben beschriebenen Automatismus auslösen. Es sei denn, dieser ist reflektiert worden.
Aus diesem Grund sind die meisten vermeintlichen Mann-Frau-Themen in Wirklichkeit ein Machtdistanzthema
Ein weiterer allgemeiner Hintergrund ist die Erziehung.
Bildung ist vielen muslimischen Familien sehr wichtig. Noch wichtiger ist es den Familien meistens, dass ihre Söhne einmal heiraten und eine Familie gründen. Deshalb werden muslimische Jungs von klein an auf ihre Rolle vorbereitet. Sie sollen einmal Oberhaupt ihrer Familie sein, sie verteidigen und für sie sorgen.
So wie man sich hierzulande erwartet, dass die Polizei zum Schutz der Gesellschaft gut ausgebildet ist, so erwartet man sich auch von muslimischen Männern, dass sie geübt sind in der Verteidigung ihrer Familie. In diesem Zusammenhang wird Schlagen können als eine Tugend erachtet.
In manchen Familien herrscht ein strenger Erziehungsstil. Bereits im Elternhaus ist die steile Hierarchie spürbar. Es wird von den Kindern erwartet, dass sie gehorchen.
In einigen muslimischen Kulturen – wie z. B. mancherorts in der Türkei – werden die Töchter von den Müttern erzogen und die Söhne von den Vätern. Für diese Kinder ist es dann sehr ungewohnt, wenn sie von einer Lehrerin Anweisungen bekommen.
Einige muslimische Jungs übernehmen bereits früh Männeraufgaben und unterstützen ihre Familie. Sie stehen dabei sehr bald schon ihren Mann.
Der Universitätsprofessor und Autor Ahmet Toprak beschreibt die Erziehung von muslimischen Jungs in dem Artikel über sein Buch: „Muslimisch, männlich, des integriert“: https://taz.de/Paedagoge-ueber-muslimische-Jungs/!5645932/
Zu den speziellen Hintergründen zählen die Erlebnisse.
Es heißt: „Ein Kind, das Probleme macht, hatte zuvor welche.“
In einigen muslimischen Ländern herrschen schon lange Kriege oder Konflikte. Viele
Regionen werden von Diktatoren oder Todesschwadronen beherrscht, die mit Willkür gegen die Menschen vorgehen.
Das beeinflusst und prägt auch diejenigen, die das selbst nie erlebt haben, deren Familienmitglieder jedoch davon betroffen waren. Denn erlebte Gewalt wird in allen Kulturen häufig an die Kinder weitergegeben. Damit muslimische Jungs diese konstruktiv abhauen können, bräuchten sie die Möglichkeit, sich in der Natur auszutoben, Abenteuer zu erleben und vor allem:
Die Möglichkeit, ein Held zu sein
Was sie stattdessen häufig erleben, ist, dass sie vermittelt bekommen, nicht in diese Gesellschaft gehören, weil ihre Augen- und Haarfarbe oder ihr Teint zu dunkel ist. Dass sie weder hier, noch im Land ihrer Eltern oder Großeltern dazugehören.
Oft kommt noch hinzu, dass sie wegen ihres Aussehens, wegen ihrer mangelnden Kenntnisse in ihrer Zweit- oder Drittsprache, Deutsch oder wegen ihres Namens schlechte Perspektiven haben, was wieder eine Form des Gewalterlebens ist, nämlich strukturelle Gewalt.
So meint Melisa Erkurt in ihrem Buch „Generation Haram“: „Die Männer können nie nur Muhammed oder Ali sein, sie tragen die Stereotype, die die Gesellschaft für sie hat, immer mit, egal wo sie sich hierzulande aufhalten…. Wo können sie in Österreich einfach nur junge Männer sein, nicht Migranten, nicht Muslime, einfach nur sie selbst?“
Erinnern Sie sich noch an eine Lehrerin, an einen Lehrer, die/der in Ihnen das Beste hervorgeholt hat. An sie geglaubt hat? Genau so jemanden brauchen viele muslimische Jungs.
Wenn im Moment die Schüler*innengruppen möglicherweise kleiner sind, bietet sich vielleicht jetzt die Gelegenheit, sich für die muslimischen Jungs etwas mehr Zeit zu nehmen.
Hier 5 Tipps, was sie tun können:
- Gehen Sie in Beziehung
Wenn Sie eine Beziehung aufbauen, lassen sich viele Schwierigkeiten vermeiden und Probleme viel leichter bereinigen. Dazu ist es jedoch notwendig, dass Sie Interesse zeigen und im Umgang wirklich präsent sind. - Hören Sie zu, ohne etwas zu sagen
Können Sie heraushören, was sie im Moment bewegt – jenseits von Schule? Können Sie das nachempfinden? Sich gehört und wirklich verstanden zu fühlen, ist eines der wunderbarsten Geschenke. - Achten Sie auf ihre Stärken
Was sehen Sie? Was würden Sie erleben, wenn Sie eine rosarote Brille aufhätten? - Seien Sie klar und gleichzeitig wohlwollend
Stimmt das, was Sie sagen, mit dem, was Sie körpersprachlich aussenden überein? Unsere Körpersprache schreit lauter, als unsere Stimme. - Nehmen Sie sie bei ihrer Ehre
Wichtig ist es jedoch, dass Sie sie ihr Gesicht wahren lassen. Dies ist nämlich einer der wichtigsten Aspekte der Kommunikation in der muslimischen Welt.
Wenn Sie mehr über den Umgang mit der steilen Hierarchie erfahren wollen, lesen Sie meinen Blogartikel: 3 Tipps wie Sie als Lehrerin von muslimischen Schülern respektiert werden