Immer wieder hört man von Lehrenden, dass morgens, mitten im Schuljahr, plötzlich ein neues Kind in den Gängen steht. Man weiß kaum etwas über das Kind, man kann sich nicht mit ihm verständigen, weiß nicht, was es kann oder nicht. Eine richtige Herausforderung für die Lehrenden. Und für das Kind. Was sind die größten Schwierigkeiten von Kindern, wenn sie neu in unser Schulsystem kommen?
Wenn Kinder als Geflüchtete ankommen, leben sie ja zunächst die ersten Monate bis Jahre in Flüchtlingsunterkünften. Diese sind selten kindgerecht oder familienfreundlich. Und meistens nicht besonders geeignet, um dort Schulaufgaben zu erledigen.
Manchmal sind dort mehrere verschiedene Personen aus verschiedenen Ländern, sozialen Schichten und unterschiedlichen Alters untergebracht. Mit denen man oft auf engstem Raum irgendwie zusammenlebt.
Häufig herrscht ein Kommen und Gehen.
Es ist meistens kein Ort, an dem die Kinderseele nach all dem Erlebten zur Ruhe kommen kann
Wenn die Familie das Glück hat, in einer Ortschaft untergebracht zu sein, in der sich Menschen aktiv um die Geflüchteten kümmern, funktioniert das Ankommen im neuen Land sehr viel besser.
Manche Kinder werden von ihrem Vater oder ihrer Mutter ins neue Land nachgeholt. Dann gibt es bereits so etwas wie eine Familienwohnung hier. Oft sind auch diese Wohnverhältnisse sehr bescheiden, da die meisten Geflüchteten wieder von neuem an der untersten Sprosse der sozialen Leiter und des Einkommens beginnen müssen.
Umso wichtiger ist Rolle der Lehrenden für diese Kinder. Sie sind der Ankerpunkt in der neuen Gesellschaft, der ihnen neuen Halt, Kontinuität und Wärme geben kann.
Viele geflüchtete Eltern sind sehr damit beschäftigt, sich innerlich wieder zu sortieren, Erlebnisse zu verarbeiten und die Grundlagen für ein neues Leben zu schaffen. Die neue Sprache zu lernen, Arbeit zu finden, in das neue System hinein zu finden, sich wieder einen Platz in der Gesellschaft zu schaffen, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, ihre neue Identität zu definieren, sich im neuen Leben zurechtzufinden.
Da ist es für sie so wertvoll und noch mehr für die Kinder, wenn diese in der Schule Rückhalt, Stabilität und Sicherheit finden
Auf der anderen Seite beginnen sich oft gerade dann, wenn die Kinder sich einigermaßen sicher und angekommen fühlen, Erinnerungen zu melden.
Erinnerungen an unaussprechliche Erlebnisse, Bilder und Erfahrungen. Alles kann zum Trigger werden – ein Wort, ein Geruch, eine Szene.
Anzeichen für Traumata können sehr unterschiedlich sein: Aggression, Zurückgezogenheit, Verwirrung, Impulsivität, Weinerlichkeit, Gedächtnislücken oder auch Wutausbrüche.
Es tauchen aber auch möglicherweise schöne Erinnerungen aus fernen Tagen auf. Und die Sehnsucht nach geliebten Menschen und das Heimweh kann bis ins Unermessliche steigen.
Oft kommen die Sorge und das Bangen um Familienangehörige und Freunde, die zurückgeblieben oder in alle Winde verstreut sind, dazu.
Da fällt es immer wieder schwer, sich auf das Lernen und die Zukunft zu konzentrieren.
Was sind die größten Schwierigkeiten von Kindern, wenn sie neu in unser Schulsystem kommen?
Es braucht außerordentlich viel Konzentration, dem Unterricht in einer anderen Sprache zu folgen.
Allein schon das beständige Hören dieser neuen Sprache kann einen schwindlig machen.
Insbesondere dann, wenn Deutsch mit den Sprachen, die die Kinder sprechen, nicht verwandt ist und sie keine Anhaltspunkte für das Verstehen haben.
Von den Ländern der muslimischen Welt, aus denen aktuell viele Menschen flüchten, sind es nur der Iran mit Farsi und Afghanistan mit Dari, deren Sprache mit Deutsch verwandt ist.
Nicht nur der Wortschatz ist herausfordernd, wenn man keine Ähnlichkeit zwischen den Wörtern finden kann und es eine halbe Ewigkeit dauert, bis man sich die merkwürdig klingenden Wörter nach und nach merken kann.
Es ist auch die Wortlänge im Deutschen, die das Erinnern an Wörter sehr schwierig macht.
Auch die Grammatik ist insofern für Menschen, die eine dem Deutschen nicht verwandte Sprache sprechen, eine große Hürde, weil die Denkweise und Logik hinter den Wort-und Satzkonstruktionen manchmal völlig anders ist.
In vielen Sprachen gibt es beispielsweise kein Verb für haben oder sein, keinen Artikel und völlig andere Ansätze statt Relativsätze.
Damit Kinder eine neue Sprache möglichst schnell lernen, ist es sinnvoll, die Grundmerkmale des Erlernens der Muttersprache miteinzubeziehen – das sogenannte Motherese: 10 Merkmale des Motherese
- Nähe und Berührung
- viele Wiederholungen
- ausgeprägte Satzmelodie
- viele Fragen
- alles kommentieren, was das Kind interessieren könnte
- Lernen in Situationen
Selbst im sprachsensiblen Fenster könnten Kinder eine Sprache nicht mit Heft, Stift und Buch lernen
Es braucht immer die Beziehung.
Was für viele Kinder, die neu in das Schulsystem kommen, schwierig ist, sind auch die neuen Laute und die Schrift. So haben z.B. Pashto in Afghanistan 42 Laute, Arabisch nur 3 Vokale, Türkisch jedoch 8.
Vielen Arabisch-Muttersprachlern fällt es deshalb schwer, den Unterschied zwischen i und e sowie zwischen o und u zu hören. Und auszusprechen. Geschweige denn das Ö und das Ü.
Im Arabischen werden nur Konsonanten und lange Vokale geschrieben. Die kurzen muss man sich dazu denken.
Im Persischen werden nur das dunkle a, das i und das u geschrieben. Das helle a, das e und das o nicht.
Im Ägyptischen Arabisch können maximal 2 Konsonanten aufeinanderfolgen, deswegen „hört“ man z.B. auch „Schetirasenban“ statt „Straßenbahn“. Doppelkonsonanten werden im Arabischen nur einmal geschrieben, aber doppelt gesprochen.
All das kann für Kinder, die bereits in einem anderen Land zur Schule gegangen sind, am Anfang sehr verwirrend sein.
Auch Mathematik, von dem man annehmen könnte, es wäre überall gleich, kann eine Herausforderung sein
Denn multipliziert und dividiert wird in vielen muslimischen Ländern anders als in Mitteleuropa.
Wobei es auch verwirrend sein kann, dass man hierzulande bei der Division links beginnt und bei der Multiplikation rechts.
Auch wenn man die arabische Schrift von rechts nach links schreibt, werden Zahlen von links nach rechts geschrieben – außer das Datum. All diese unterschiedlichen Richtungen können Kinder verwirren.
Was sind die größten Schwierigkeiten von Kindern, wenn sie neu in unser Schulsystem kommen?
Abgesehen von dem, WAS die Kinder im neuen Schulsystem lernen, kann auch das WIE sehr schwierig sein.
In vielen muslimischen Ländern wird auf das Auswendiglernen großen Wert gelegt.
Das, was die Lehrenden sagen oder in den Büchern steht, soll möglichst genau wiedergegeben werden. Es wird wie ein Schatz erachtet, auf den man gut acht gibt.
In mitteleuropäischen Schulen hingegen wird gefordert, zu verstehen, was man liest oder tut. Auswendiglernen bringt einen hier nicht weiter – man kann damit keine Textrechnungen lösen, Zusammenfassungen oder Erörterungen schreiben, Lückentexte ausfüllen oder Schlüsselwörter finden.
Sich an sinnerfassendes Lernen zu gewöhnen, kann sehr schwierig sein
Ebenso herausfordernd kann es sein, in das selbständige Arbeiten hinein zu finden.
In vielen Schulen der muslimischen Welt gibt es strenge Vorgaben, an die es sich zu halten gilt, ohne viel zu hinterfragen.
Da finden manche Kinder schwer Halt, wenn sie sich plötzlich selbst motivieren und Aufgaben selbst erarbeiten sollen.
Eigenständiges Tun ist zwar wichtig – bis dorthin benötigt es jedoch viel Begleitung.
Eine besondere Herausforderung für viele Kinder ist es, dass vielerorts in Mitteleuropa die Leistungsebene vor der Beziehungsebene kommt. Dass es manchmal mehr zählt, was man „abliefert“, als was einen ausmacht. Wer man als Mensch ist, was einen bewegt, welche Träume man hat. Und wie das Miteinander ist.
Diese Nüchternheit und oft soziale Kälte ist besonders für geflüchtete Kinder schwer auszuhalten.
Folgende 3 Punkte können Kinder dabei unterstützen, dem Unterricht besser folgen zu können:
- Beziehung und Berührung
- an der Hand nehmen
- langsam in das neue System hinein begleiten.
Wenn Sie mehr über das Lernen in der muslimischen Welt erfahren wollen, lesen Sie den Blogartikel: Wissenswertes über muslimische Schüler*innen in deutschsprachigen Schulen
Kommen Sie mit muslimischen Eltern in Kontakt, damit Sie gemeinsam für die Kinder das Beste erreichen!
Ich übersetze für Sie die muslimischen Kulturen.